Die Begrüssung war mehr als ein Wort…

… Sie kam einer Aufforderung gleich: auf dass es so werde mit dir. Ursprünglich war sie ein Satz, aber seine Aussprache hatte sich verbildlicht zu einem Wort. Und man hatte vergessen, was damit gemeint war. Der Satz hatte sich verwörtlicht. »Ein Wort also für einen ganzen Satz«, sagte ich zu meiner Großmutter. »Wenn ich sage: tungjatjeta, dann sage ich tu ngjat jeta!« »So ist es, aber daran denkt keiner mehr, es ist nur noch, ja, wie soll ich sagen? Wie wir heute eben sagen, guten Tag, grüßgott, so sagt man manchmal tungjatjeta, es will nicht mehr so viel bedeuten«, erklärte sie mir. Es liefen Tausende von Menschen durch die Straßen und begrüßten sich mit einem tungjatjeta, liefen aneinander vorbei, hoben eine Hand oder zwinkerten mit einem Auge und sagten diesen Satz in einem Wort. Es war noch schlimmer, sie kürzten das bereits Eingeschrumpfte ab, manchmal sagte man nur: tung, so aber auch für den Abschied gesagt, hajt tung, dann tschüss.

Mutter ging weg und die Tante hatte ich schon länger nicht mehr gesehen. Für wie lange wusste ich nicht genau, als Kind vergehen die Tage anders. Die Frau meines Onkels brachte einen kleinen Jungen zur Welt. Der Stolz der Familie, jüngster Stammhalter. Aber er war noch zu klein, um mich zu verärgern. Noch war ich der Junge der Familie. Daran bestand kein Zweifel. Ich konnte mich nicht erinnern, wann Mutter gegangen war, wahrscheinlich kurz nachdem die Tante das Loch in die Erde geschaufelt hatte. Man berichtete gelegentlich. »Gu-te-na-he-te«, sagte mir Großmutter, »sag mal, gutenaakght«. Ich versuchte es; es war schwer, denn die Vermischung von c und h war mir neu, es hatte etwas Brüchiges und Unvermittelbares für die Zunge. »Wie ein dickes H«. »Aber wie hört sich ein dickes H an?« »Vom Rachen aus, die Luft anhalten, dann langsam durchgehen lassen«.

»Guten Tag« war da bedeutend einfacher für meinen Mund. Ich übte, blieb aber lieber bei der altbekannten Aussprache von einer täglichen Begrüßung: tungjatjeta, wie es jeder sagte. Großmutter erklärte, warum alles andere hier gar niemand verstanden hätte. »Und du willst doch, dass dich die Menschen hier verstehen«. Ich nickte.

Großmutter versprach, dass sie für mich schreiben würde. Ich sprach, sie schrieb. Es sollte ein Brief an die Mutter werden. Ich wollte ihr erzählen von meinen Spielen und dem roten Ball aus Plastik, der sich zwischen Ästen verfangen hatte, als ich ihn in die Höhe warf. Am nächsten Tag, wenn der Regen aufgehört hatte, wollte ich die Bäume hochklettern und ihn herunterholen.

(…)

Auszug aus: Tungjatjeta. Prosaszenen einer Jugend, Löcker Verlag, Wien 2022.